Mit Eigenverantwortung wird die Bereitschaft und die Pflicht bezeichnet, für das eigene Handeln oder Nicht-Handeln Verantwortung zu tragen bzw. die Konsequenzen für die eigenen Entscheidungen auch selbst zu tragen.
In Diskussionen über Lösungsvorschläge zur Klimaerhitzung oder über Corona-Massnahmen wird oft mit Bezug auf das Prinzip der Eigenverantwortung oder dem Selbstbestimmungsrecht betont, die Massnahmen müssten auf Freiwilligkeit beruhen und Änderungen in den Rahmenbedingungen (Gesetze, Regeln, Anreize) werden als unnötig abgelehnt. Oft wird im Rahmen der Argumentation rasch klar, dass eigenverantwortliches Handeln oder eigenverantwortliches Leben mit Ich-Bezogenheit, Individualismus oder Egoismus verwechselt wird. Nachfolgend soll deshalb die Definition von Eigenverantwortung und die Konsequenzen in Erinnerung gerufen werden.
Eigenverantwortung folgt aus dem Selbstbestimmungsrecht
Das Selbstbestimmungsrecht ist ein zentrales Recht für alle mündigen Menschen, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität, Religion, usw. Selbstbestimmung bedeutet nach freiem Willen über sein eigenes Leben entscheiden zu können. Sie wird häufig auch Entscheidungsfreiheit, Entscheidungs-Autonomie oder Unabhängigkeit genannt. Selbstbestimmung ist letztendlich das Gegenteil von Manipulation, Fremdbestimmung bzw. Unterdrückung.
Selbstbestimmung führt immer zur Eigenverantwortung, denn wenn ich frei entscheiden kann, was ich tue oder nicht tue, dann bin ich logischerweise auch für die Folgen von diesen Entscheidungen selbst verantwortlich (wer denn sonst?). Wie weit die persönliche Verantwortung reicht, hängt vom persönlichen Bewusstsein ab (siehe Kapitel Selbstbestimmungsrecht und Eigenverantwortung im Buch 1 x 1 des Bewusstseins).
Grenzen der Eigenverantwortung bzw. des eigenverantwortlichen Entscheidens
Die Ausübung meines persönlichen Selbstbestimmungsrechts darf selbstverständlich nicht dazu führen, dass ich andere Personen in deren Möglichkeit zur Selbstbestimmung einschränke! Immanuel Kant (1724–1804) formulierte es so:
«Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt»
Immanuel Kant (1724–1804)
und Matthias Claudius (1740–1815) schrieb:
«Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet».
Matthias Claudius (1740–1815)
Mit «einem anderen» meinte Claudius in diesem Zusammenhang wohl alle Mitmenschen und die nachkommenden Generationen. Das Selbstbestimmungsrecht darf somit auf keinen Fall mit einem Freipass zu reinem Ich-bezogenen Denken oder Handeln verwechselt werden. In einem Artikel in der NZZ wurde dies so formuliert: «Wer bei Selbstverantwortung zuerst an sich denkt, steht schon auf verlorenem Posten. Denn vor allem geht es um den anderen, und das Selbst hat hauptsächlich die Arbeit.». Es geht nicht primär um die Auswirkung meiner Handlungen (oder Nicht-Handlungen) auf mich selbst, sondern in den meisten Fällen um die Auswirkungen auf Dritte oder auf die Natur, selbst wenn diese Wirkungen zeitverzögert auftreten. Dies ist insbesondere bei globalen Problemen der Fall, wie zum Beispiel Klimawandel, Biodiversitäts-Verlust, Pandemien, usw.
Rein ökonomisch betrachtet bedeutet Eigenverantwortung, dass eine Person die wirtschaftlichen Folgen ihrer Entscheidungen selbst trägt und nicht auf Dritte oder auf die Gesellschaft abwälzt. Dazu wäre eine vollständige Kostenwahrheit notwendig. Diese fehlt bekanntlich insbesondere bei den meisten Umweltproblemen.
Die Rolle des Staates bzw. der Gesellschaft: Regeln versus Eigenverantwortung
Wie soll eine einzelne Person die Auswirkungen seiner/ihrer Entscheidungen «eigenverantwortlich» abschätzen und gewichten? Es ist gar nicht immer einfach zu sehen, ob bzw. inwiefern meine Entscheidungen Dritte jetzt oder in Zukunft in deren Freiheit einschränken. Zwei Beispiele:
- Ferienflüge stossen Treibhausgase aus und führen wegen der Klimaerhitzung dazu, dass die Lebensbedingungen von zukünftigen Generationen beeinträchtigt werden. Tourismus ist für einige Gebiete aber auch eine wichtige Einnahmequelle und sichert das Wohlergehen der betroffenen Gesellschaft in der Feriendestination.
- Wenn ich in einer Pandemie keine Maske trage, übertrage ich möglicherweise ansteckende Krankheiten auf andere Personen, welche ihrerseits krank werden. Wenn ich selber krank werde und hospitalisiert werden muss, können andere Personen möglicherweise nicht oder schlechter behandelt werden, weil ich Ressourcen im Gesundheitswesen für mich beanspruche.
Es macht deshalb Sinn, wenn der Staat Regeln erlässt, welche verhindern, dass Einzelne aus falsch verstandener Eigenverantwortung die Freiheiten von Dritten vorsätzlich oder unwissentlich einschränken. Die beiden oben erwähnten Beispiele für Eigenverantwortung zeigen, dass oft viel Expertenwissen notwendig ist, um die Freiheit der einzelnen Personen voneinander abzugrenzen. Nicht Jede(r) kann zum Beispiel ein Experte oder eine Expertin in Pandemien oder in Bezug auf den Klimawandel sein. Zudem müssen oft auch unterschiedliche Aspekte einbezogen werden.
Deshalb macht es Sinn, wenn sich die Gesellschaft in solchen Fällen via Staat Regeln gibt, an die sich alle Personen halten müssen. Solche Regeln sind nicht zuletzt eine wichtige Orientierung und Erleichterung in Bezug auf sinnvolles Verhalten von Einzelpersonen und Organisationen. Denn wie oben dargelegt, ist das Prinzip der Eigenverantwortung sehr anspruchsvoll und fordert sehr viel von Individuen. Ein gutes Beispiel dazu lieferte die Coronapandemie:
Dem Aufruf im öffentlichen Verkehr eigenverantwortlich Masken zu tragen, folgte nur etwa 5 bis 10% der ö.V.-NutzerInnen. Dies obwohl bei repräsentativen Umfragen mehr als zwei Drittel der Befragten das Tragen von Masken im ö.V. befürworteten. Die darauffolgende Masken-Tragpflicht wurde von der Mehrheit als Erleichterung wahrgenommen und führte dazu, dass zwischen 95 und 100% der ö.-V.-Nutzerinnen eine Maske trugen.
Missbrauch der Eigenverantwortung
Wie das obige Beispiel mit der Masken-Tragpflicht sehr gut zeigt, erwartet die Gesellschaft vom Staat gewisse Regeln, sonst ändert sie das Verhalten nicht. Es gehört aber in der heutigen Zeit dazu, dass sich jeweils spezielle Gruppen von Personen durch diese Regeln in ihrer individuellen Freiheit eingeschränkt fühlen und auf die sogenannte Eigenverantwortung pochen. Sie tun dies lautstark via soziale Medien und mit Demonstrationen kund. In der Regel sind es genau diese Gruppen, welche Eigenverantwortung als Freipass für egoistischen Individualismus und globale Verantwortungslosigkeit missverstehen. Die Folgen ihrer Entscheidungen auf Dritte kümmern sie wenig. Man will sich nichts vorschreiben lassen und macht Stimmung gegen die «Bevormundung» des Staates, spricht von «Staatsterror», Diktatur, usw.
Es geht bei der Eigenverantwortung aber primär um die Verantwortung gegenüber Dritten und nicht um die (uneingeschränkte) Freiheit des Individuums.
«Eigenverantwortung» ist «Floskel des Jahres 2021»
Die Betreiber des Netzprojekts Floskelwolke haben «Eigenverantwortung» zur leeren Floskel des Jahres 2021 gewählt. Sie begründen ihre Wahl mit der Aussage, der Betriff sei von Impfgegnerinnen und Impfgegnern als Rechtfertigung für Egoismus gekapert worden.
Was kann Eigenverantwortung im Zusammenhang mit der Klimaerhitzung leisten?
Im Anhang befindet sich eine Studie zur Situation in der Schweiz. Die Studie ging der Frage nach, inwiefern sich die Treibhausgasemission der Schweiz durch Eigenverantwortung von Privatpersonen auf das notwendige Mass reduzieren lassen. Auszug aus der Zusammenfassung der Studie:
Durch sehr ambitionierte, freiwillige Entscheidungen (Eigenverantwortung) könnten die Treibhausgas-Emissionen einer durchschnittlichen, in der Schweiz wohnhaften Person um etwas mehr als die Hälfte reduziert werden. Zur Reduktion der restlichen Emissionen sind veränderte Rahmenbedingungen, d.h. politische Massnahmen erforderlich.
Bei realistischer Betrachtung kann aber höchstens ein Drittel dieser ambitionierten Massnahmen durch Eigenverantwortung von Privatpersonen umgesetzt werden, was die Wirkung von Eigenverantwortung auf etwa 20% der erforderlichen Reduktionen limitiert. Die politischen Massnahmen erschliessen für eine in der Schweiz wohnhafte Person somit ein vier Mal grösseres Treibhausgas-Reduktionspotenzial als Massnahmen, welche freiwillig umgesetzt würden.
Letztendlich braucht es sowohl freiwillige Verhaltensänderungen als auch politische Massnahmen. Politische Massnahmen zur Reduktion der Treibhausgasemissionen sind aber für die Schweiz sehr wichtig und dringend. Wer Klimaschutz in der Schweiz nur über die Eigenverantwortung von Privatpersonen erzielen will, kann das Netto-Null-Ziel unmöglich erreichen. Schlimmer noch: Damit werden die wirkungsvollsten Instrumente, die politischen Massnahmen, verzögert und bekämpft.
Quelle: Rohrer, J. (2021). Klimaerhitzung: Welchen Beitrag können Eigenverantwortung bzw. politische Massnahmen leisten? . https://doi.org/10.21256/ZHAW-2419
- Studie Klimaerhitzung: Welchen Beitrag können Eigenverantwortung bzw. politische Massnahmen leisten?
- Interview im deutschen Radio
- Beitrag im Schweizer Radio DRS (Echo der Zeit)
Zusatz: Was bedeutet eigentlich persönlich «verantwortlich sein»?
Bei der Abklärung der Verantwortung betrachten wir jeweils eine bereits eingetroffene Wirkung, eine Folge oder ein Ergebnis und wir fragen, wer mit seinen Entscheidungen dazu beigetragen hat, dass dieses Ergebnis entstanden ist. Diejenigen Personen, welche mit ihren – bewusst oder unbewusst getroffenen – Entscheidungen dazu beigetragen haben, dass das vorliegende Ergebnis zustande gekommen ist, sind verantwortlich für dieses Ergebnis. Wir gehen also von einer Wirkung aus und fragen uns, welche Personen diese Wirkung direkt oder indirekt verursacht haben. Bei der Frage nach der Verantwortung geht es nicht um richtig oder falsch, sondern lediglich um die Frage, wer mit seinen Entscheidungen zu einem Ergebnis beigetragen hat.