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Verantwortung tragen

Unser Dasein auf der Erde, unsere Taten, Worte, Gedanken, ja allein schon unsere Lebensvorgänge erzeugen eine bestimmte Wirkung in unserer Umgebung. Durch unsere Atmung wan­deln wir zum Beispiel Sauerstoff in Kohlendioxid um, unsere Haut ver­dunstet Wasser, mit unseren Füssen erzeugen wir einen Druck auf den Erdboden. Wenn wir in einem Laden Lebensmittel einkaufen und mit Geld bezahlen erzeugen wir damit ebenfalls eine bestimmte Wirkung.

Auch für diese Wirkungen tragen wir die Verantwortung. Anhand der oben erwähnten Beispiele dürfte klar werden, dass «die Ver­antwortung tragen» oder «verantwortlich sein» à priori weder posi­tiv noch negativ ist. Es handelt sich um eine wertfreie Aussage.

Bei der Abklärung der Verantwortlichkeit betrachten wir jeweils eine bereits eingetroffene Wirkung, eine Folge oder ein Ergebnis und wir fragen, wer mit seinen Entscheidungen dazu beigetragen hat, dass dieses Ergebnis entstanden ist. Diejenigen Personen, welche mit ihren – bewusst oder unbewusst getrof­fenen – Ent­scheidungen dazu beigetragen haben, dass das vorliegende Ergebnis zustande gekommen ist, sind verant­wortlich für dieses Ergebnis. Wir gehen also von einer Wirkung aus und fragen uns, welche Personen diese Wirkung direkt oder indirekt verursacht haben.

Betrachten wir drei weitere Beispiele:

  • Das Geschirr vom Mittagessen steht am Abend immer noch auf dem Tisch. Wer trägt die Verantwortung dafür? Wer hat geges­sen, hätte jemand abräumen sollen und falls ja, wer?
  • Der Säugling im Kinderwagen trägt Handschuhe. Wer ist ver­antwortlich dafür, d.h. wer hat sie ihm angezogen oder nicht ausgezogen?
  • Ein Mann isst heute Mittag Spaghetti in der Kantine. Wer ist verantwortlich dafür, dass er Spaghetti isst?

Wir haben bewusst drei nicht sehr spektakuläre Beispiele gewählt, um zu verdeutlichen, dass wir wirklich für alles, was wir tun oder lassen verantwortlich sind. Wir müssen dabei ganz klar unter­scheiden zwischen Haftung und Verantwor­tung: Das Wort Haftung verwenden wir in der Regel im Zusammenhang mit negativen Ereignissen zur Abklärung der Schuldfrage. Verantwortung ist aber viel umfassender, es geht nicht um eine Schuld, sondern um die Frage, wer mit seinen Entscheidungen zu einem bestimmten Ereignis beigetragen hat.

Es ist zudem unmöglich, sich der Verantwortung auf irgend eine Art und Weise zu entziehen oder eine Verantwortungs­versicherung analog der Haftpflichtversicherung dafür abzu­schliessen. Sobald eine Entscheidung von uns zum Ergebnis bei­getragen hat, sind wir persönlich verantwortlich dafür (siehe unten). Ob andere Personen ebenfalls zum Ergebnis beigetragen haben, spielt für die Betrachtung unserer Verant­wortung keine Rolle. Dazu ein weiteres Beispiel:

Eine Person stürzt auf dem Gehsteig und bleibt liegen. Die ersten 3 Passanten sehen die am Boden liegende Person und gehen ohne etwas zu unternehmen weiter. Die vierte Person, welche zufällig vorbei kommt, hilft der gestürzten Person wieder auf die Beine.

Die ersten drei Passanten haben nicht gehandelt, sie sind ver­ant­wortlich für ihr Nicht-Handeln. Die vierte Person hat ent­schieden etwas zu unternehmen, sie ist verantwortlich für die Art und Weise wie sie gehandelt hat. Damit ist nicht etwa gesagt, die ersten drei Personen hätten falsch und die vierte Person hätte richtig gehan­delt. Bei der Frage nach der Verant­wortung geht es nicht um rich­tig oder falsch, sondern lediglich um die Frage, wer mit seinen Entscheidungen zu einem Ergeb­nis beigetragen hat. Man sucht nach den Personen, welche eine bestimmte Wirkung, ein bestimmtes Ereignis oder ein bestimmtes Ergebnis (mit-)verur­sacht haben. Dies ist völlig unabhängig davon, ob die betrachtete Wirkung aus unserer Sicht positiv oder negativ war. Es geht nur darum, wer mit seinen Entscheidungen zu dieser Wirkung beige­tragen hat.

Zwischen der Entwicklung einer Person und den Entscheidun­gen, für welche diese Person verantwortlich ist, besteht ein enger Zusammenhang: Wir haben in den vorhergehenden Kapiteln die persönliche Entwicklung zu Harmonie und Ruhe mit dem Bau einer Pyramide verglichen. Stein für Stein setzen wir an seinen Platz und bauen dadurch die Pyramide auf. Die Bausteine dieser Pyramide sind die Handlungen und Entschei­dungen, für welche wir persönlich verantwortlich sind. Respektieren wir die Grund­rechte des Seins bei unseren Handlungen und Entscheidungen, so entstehen zusätzliche Bausteine, welche wir einsetzen können. Verletzen wir die Grundrechte des Seins, so geschieht genau das Gegenteil: Bereits eingesetzte Bausteine fallen heraus, wir müssen uns die entsprechenden Eigenschaften und Fähigkeiten zum Leben der Grundrechte des Seins in jenen Situationen noch aneignen, damit die Pyramide repariert bzw. weiter gebaut werden kann.

Wir müssen aber nochmals betonen, dass Bausteine für unsere Pyramide nur entstehen können aus Entscheidungen, für welche wir persönlich verantwortlich sind. Diese Betrachtung über die Verantwortung soll deshalb keinesfalls zur Passivität animieren nach dem Leitsatz «ich will für möglichst wenig verantwortlich sein». Eine solche Passivität würde die persön­liche Entwicklung bremsen und keinesfalls fördern. Nur unsere eigene Aktivität kann uns bei gleichzeitiger Einhaltung der Grundrechte des Seins weiterentwickeln. Für je mehr Entschei­dungen wir verantwortlich sind, desto grösser sind grund­sätzlich unsere Entwicklungs­chancen! Wir werden in den kommenden Abschnitten deshalb diskutieren, unter welchen Bedingungen es sinnvoll ist, eine Akti­vität auszuführen bzw. wann man diese unterlassen sollte. Im wesentlichen geht es darum, unsere Entwicklungschancen den Entwicklungsrisiken gegenüberzustellen.

Die Abklärung der Verantwortung kann uns helfen im nach­hinein herauszufinden, ob wir die Grundrechte des Seins in einer gege­benen Situation respektiert oder verletzt haben. Als wesentlich wichtigerer Aspekt soll es uns aber die Abklärung erlauben, wie weit wir für unser Verhalten und dessen direkte und indirekte Fol­gen verantwortlich sind. Wie wir weiter oben gesehen haben, wird unsere Zukunft beeinflusst durch alles, wofür wir verantwortlich sind. Wie weit sollten wir deshalb bei unseren Entscheidungen vorausdenken? Durch die starke Ver­knüpfung auf der Erde könnte wohl jedes der bisher verwen­deten Beispiele beliebig weiter ent­wickelt werden, so dass die auslösende Person nach einer gewis­sen Zeit für alles, was auf der Erde geschieht verantwortlich wäre!

Nehmen wir als Beispiel nochmals den Mann, welcher am Mittag in der Kantine Spaghetti isst: Er spritzt Sauce auf sein Hemd, das Hemd wird mit Waschmittel gewaschen, welches die Gewässer belastet, das belastete Wasser gelangt ins Meer und dadurch in die Nahrungskette. Vom Meer verdunstet das Wasser und fällt später in Form von Niederschlägen irgendwo auf der Erde wieder aus. Nach einer gewissen Zeit wird praktisch die ganze Erde in irgend einer Form davon betroffen bzw. beeinflusst sein. Und alles nur, weil dieser Mann an einem bestimmten Tag Spaghetti geges­sen hat!

So schlimm kann es aber auch nicht sein, irgendwo müssen unse­rer Verantwortung Grenzen gesetzt sein. Wo diese Gren­zen sind und wie wir unsere eigenen Grenzen der Verant­wortung finden und verändern können, wollen wir auf den nächsten Seiten disku­tieren.

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