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Das Brillenmodell

Das angenehme an der Subjektivität ist die Beeinflussungs­möglichkeit durch uns selbst. Wenn meine Wahrnehmung subjek­tiv ist, dann habe ich – und nur ich alleine – alle Mög­lichkeiten, meine eigene Wahrnehmung zu beeinflussen bzw. beeinflussen zu lassen. Ich alleine entscheide, ob ich etwas als gut oder schlecht, als angenehm oder unangenehm, kalt oder warm, schön oder hässlich empfinde!

Wir sehen unsere Umgebung und die Ereignisse um uns nicht «objektiv» oder neutral, sondern wie durch eine Brille, welche unsere Interpretation des Bildes bestimmt. Diese Brille halte ich mir selbst vor die Augen. Je nach dem, wie diese Brille das an und für sich neutrale Bild eines Ereignisses verändert, macht das Bild uns zum Beispiel Angst, Freude, Ärger oder versetzt uns in Trauer. Wir empfinden das Bild als gut oder schlecht, negativ oder positiv, sinnvoll oder unsinnig, dunkel oder hell, richtig oder falsch.

Wenn wir davon ausgehen, dass diese subjektive Beeinflussung des neutralen Bildes in unserem Unterbewusstsein geschieht, so können wir uns dort eine grosse Sammlung von verschie­denen Brillen vorstellen. Je nach dem, welche Brille uns unser Unter­bewusstsein hinhält, interpretieren wir das Bild auf eine andere Art und Weise, versetzt es uns zum Beispiel in Angst, Wut, Betroffen­heit, Gleichgültigkeit, Freude oder Trauer. Unsere Wahrnehmung wird durch die jeweilige Brille bestimmt.

Sicher haben Sie auch schon beobachtet, wie Sie ein Film an einem Tag zum Lachen bringen kann, an einem anderen Tag finden Sie dieselbe Szene unter Umständen überhaupt nicht lustig. Die Szene ist selbstverständlich immer noch genau gleich – Ihre Laune oder Stimmung ist jedoch anders gewor­den, deshalb inter­pretieren Sie anders. Sie haben eine andere Brille aufgesetzt.

Es ist sehr wichtig – und auch beruhigend – zu sehen, dass unsere Wahrnehmung nicht von aussen gesteuert wird. Das Unter­bewusstsein ist ein Teil von uns, deshalb können wir es beein­flussen. Wir können jedoch auch zulassen, dass es von aussen beeinflusst wird. Wir werden später darauf zurück­kommen.

Was hat aber dieser Exkurs über die subjektive Wahrnehmung mit der persönlichen Entwicklung zum Leben der Grundrechte des Seins zu tun? Wir haben uns eingangs die Frage gestellt, wie uns das Leben mit den jeweils passenden Situationen kon­frontiere, damit wir uns weiterentwickeln können.

Eine solche Möglichkeit stellt die subjektive Wahrnehmung dar: Wenn wir uns weiterentwickeln wollen zum Leben der Grundrechte des Seins, wenn wir die dauernde Harmonie mit uns selbst anstre­ben, so kann uns unser Unterbewusstsein bei jeder Situation die «richtige» Brille hinhalten. Diese «richtige» Brille lässt uns eine gegebene Situation so wahrnehmen, dass wir daraus etwas lernen können – sofern wir wollen. Somit bietet uns letztendlich jede Situation eine Möglichkeit, etwas zu lernen. Bei der absolut iden­tischen Situation können verschie­dene Personen zur gleichen Zeit ganz verschiedene Eigen­schaften trainieren! Das Unterbewusst­sein wird jeder Person die geeignete Brille hinhalten, so dass sie die Situation entspre­chend interpretiert.

Am Anfang dieses Abschnittes haben wir als Beispiel das «los­lassen können» als möglicher Lernschritt erwähnt. Wenn jemand an diesem Lernschritt arbeitet, wird ihm sehr vieles in seinem Leben «weggenommen»: Seine Kinder ziehen vielleicht ins ferne Ausland, viele Bekannte gehen weg, er wird evtl. von seinem Arbeitgeber entlassen, obwohl er bis zur Pensionierung bleiben wollte, er verliert vielleicht eine wertvolle Uhr, sein Koffer wird gestohlen, jemand anders bekommt die Lorbeeren für Teile seiner Arbeit, usw. Selbstverständlich sind dies alltäg­liche Dinge, welche in jedem Leben vorkommen können, über­haupt nicht spektakulär. Wegen der Brille, durch die er das Geschehen jeweils betrachtet, wird er selbst jede der aufge­zählten Ereignisse als unheimlich tra­gisch einstufen und ver­mutlich sehr darunter leiden. Bis er eines Tages gelernt hat, freiwillig loszulassen. Ähnliche Dinge werden danach immer noch vorkommen, er wird es aber ganz anders empfinden, da er nun durch eine andere Brille blickt.

Es geht nicht etwa darum, immer eine rosafarbene Brille auf­zu­haben, damit alles als «gut» empfunden wird. Man könnte selbst­verständlich in Versuchung kommen, sein Unterbewusst­sein durch irgendwelche Techniken zu überlisten, so dass es uns alles in der rosa Brille betrachten lässt. Wir würden uns dadurch aber letzt­endlich selbst betrügen, die Symptome anstatt die Ursachen bekämpfen.

Wesentlich sinnvoller ist es, jeweils sich selbst zu beobachten und sich zu fragen, weshalb wir wohl eine bestimmte Situation auf gerade diese Art und Weise empfunden haben, weshalb wir gerade auf diese Art und Weise reagiert haben. Besonders wichtig ist diese Frage, wenn mit unserer Reaktion (negative) Emotionen verbunden waren! Grundsätzlich können wir aber aus jeder Reak­tion von uns etwas lernen, sobald wir feststellen, dass wir bewer­ten. Wir können danach bewusst an den Ursa­chen dafür bei uns arbeiten und uns damit weiter entwickeln. Schlussendlich wird sich die entsprechende Brille «auflösen», so dass wir auf ähnliche Situationen in Zukunft anders reagie­ren werden.

Wir haben früher das Ziel aller Menschen beschrieben, die Grund­rechte des Seins in jeder Situation zu leben um in einen dauern­den Zustand der Harmonie mit sich selbst zu gelangen. Mit dem «Brillenmodell» und der subjektiven Wahrnehmung könnte man dies auch beschreiben mit einem Zustand, wo unsere Wahr­nehmung nicht mehr durch Brillen beeinträchtigt wird, wo wir nicht mehr bewerten, sondern alles gelassen hin­nehmen können wie es ist.
Diese Parallelität dürfte niemanden erstaunen: Wenn meine Laune, mein Verhalten und meine Stimmung überhaupt nicht mehr von äusseren Dingen beeinflusst werden können – also keine Bril­len mehr zu einer Bewertung einer Situation führen -, dann kann ich in dauernder Ruhe und Harmonie mit mir selbst sein. Anson­sten würde diese Harmonie immer wieder gestört durch die Bewertung von irgendwelchen Ereignissen.

Hier wird auch nochmals deutlich, wie hoch das Ziel der dauern­den Harmonie mit sich selbst bzw. das Nichtbewerten von Situa­tionen im Alltag in Tat und Wahrheit ist: Jeder von uns hat wohl seine Schwachpunkte, die ihn leicht aus der Fassung bringen. Dies können vielfach so banale Dinge sein wie ein Autofahrer hin­ter Ihnen, welcher hupt, mit der Licht­hupe blinkt oder mit dem Fin­ger «eindeutige» Zeichen gibt; Ihr Kind, welches genau das macht, was Sie ihm vor 2 Minuten unter Androhung einer Strafe streng­stens verboten haben; eine Drittperson, welche Lügen über Sie in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz verbreitet; ein Computer, welcher zum x-ten Mal ohne sichtlichen Grund abstürzt, usw.

Man muss aber nochmals betonen, dass diese Gelassenheit nicht mit dem Tragen einer rosaroten Brille verwechselt wer­den darf, welche alles als lustig und gut erscheinen lässt. Auch die rosarote Brille wäre eine Bewertung, eine Bewertung welche uns zwar in der Regel als angenehm erscheint. Man würde einfach alles als gut bewerten und wie ein Verrückter mit einem eingefrorenen Lächeln durchs Leben gehen.

Eine grosse Gefahr stellt in diesem Zusammenhang auch das Übernehmen von fremden Brillen dar: Häufig lassen wir zu, dass andere unsere Wahrnehmung beeinflussen oder gar bestimmen. Dies können Eltern, Lehrer, Freunde, Partner, Organisationen, Zeitungen, Zeitschriften, Internet, Radio, Fern­sehen, Filme, Wer­bung, und vieles mehr sein. Gerade bei jenen Medien, welche unsere Wahrnehmung oftmals ganz bewusst zu manipulieren ver­suchen, sollten wir vorsichtig sein, um nicht Bewertungen der Rea­lität von Dritten zu übernehmen. Die Entscheidung, ob wir eine solche Beeinflussung zulassen oder nicht, liegt alleine bei jedem von uns.

Betrachten wir zur Anschauung einen Krieg, den eine oder meh­rere Nationen zum Beispiel «im Auftrag der UNO» in einem frem­den Land führen. Die Regierung im bekriegten Land (oftmals eine einzige Person) wird zum Synonym für alles Böse und Schlechte gestempelt. Die eigene Verletzung der Grundrechte des Seins durch die militärische Intervention wird mit der Verletzung im frem­den Land zu legitimieren versucht. Indem wir diese Bewertung übernehmen, produzieren wir in uns eine Brille, welche uns genau dieses Bild vermittelt.

Nichts und niemand kann uns dazu zwingen, unsere Wahr­nehmung von aussen beeinflussen zu lassen. Falls wir eine Beeinflussung zulassen, ist dies unsere eigene, freie Wahl. Als Konsequenz dafür müssen wir allerdings in der Regel Rück­schritte in unserer persönlichen Entwicklung in Kauf nehmen. Denn jede Brille, welche wir uns angeeignet bzw. übernommen haben, müssen wir irgendwann einmal auch wieder loswer­den. Die Über­nahme von Bewertungen anderer oder die Beein­flussung durch fremde Bewertungen schafft deshalb Mehr­arbeit auf unserem Weg zur dauernden Ausgeglichenheit, zum Leben der Grundrechte des Seins in jeder Situation. Dabei spielt es absolut keine Rolle, woher wir Bewertungen über­nehmen: Ob wir sie zum Beispiel aus der Werbung oder von einem religiösen Führer übernehmen, ist für unsere Entwick­lung genau dasselbe!

Die subjektive Wahrnehmung ist ein sehr mächtiges Hilfsmittel zur persönlichen Entwicklung. Damit sie richtig funktionieren kann, braucht es nur eine einzige – aber sehr wichtige – Voraus­setzung: Wir müssen aus eigenem Antrieb und bedingungslos die Grund­rechte des Seins in jeder Situation respektieren wollen. Von selbst findet diese Entwicklung nicht statt.

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